Wissenschaftstheorie und Hermeneutik: Erklären und Verstehen

Wissenschaftstheorie und Hermeneutik: Erklären und Verstehen
Wissenschaftstheorie und Hermeneutik: Erklären und Verstehen
 
Die Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit Methoden und Theorien der Wissenschaften. Ihr Anliegen besteht in der Definition des Begriffs Wissenschaft. Dabei steht der Anspruch der Wissenschaften auf Wahrheit, Objektivität und Wissensfortschritt im Vordergrund, aber auch Aspekte der Geschichte und der Institutionalisierung der Wissenschaften werden betrachtet. Demnach ist die Wissenschaftstheorie eine Metatheorie, deren Gegenstand spezifische forschungsrelevante Formationen von Wissen sind. Sie überschneidet sich teilweise mit der Erkenntnistheorie. Beide Ansätze haben es zwar mit genuin philosophischen Fragestellungen zu tun, aber ohne Kenntnis der einschlägigen Forschungen in den Einzelwissenschaften sind auf diesem Gebiet kaum Einsichten zu gewinnen.
 
Sowohl in der Erkenntnis- als auch in der Wissenschaftstheorie werden die meisten Fragen kontrovers diskutiert. Hierzu gehört an prominenter Stelle die Kontroverse über die wissenschaftliche Methode zwischen den Vertretern der Naturwissenschaften und denen der Geisteswissenschaften, insbesondere zwischen Positivismus und Hermeneutik. Dabei geht es um die beiden »Haupttraditionen in der Wissenschaft und in der Philosophie der wissenschaftlichen Methode« (Georg Henrik von Wright): die aristotelische Linie, die mit dem teleologisch-verstehenden Ansatz verknüpft ist, und die Galileis, die zu der Herausbildung kausal-erklärender Verfahren geführt hat. In den die Neuzeit prägenden Erfahrungswissenschaften ist der Theoriebegriff nicht mehr auf die Erfassung des unabänderlichen Wesens der Natur gerichtet, sondern auf die für die praktisch-technische Erforschung der empirischen Natur benötigten Erklärungen der Phänomene. Sind somit wissenschaftliche Aussagen nur über empirische Tatbestände möglich, denen eine »Kausalität nach der Natur« (Kant) unterstellt wird? Oder lassen sich auch diejenigen Erfahrungsgegenstände, die auf »Kausalität aus Freiheit« beruhen, das heißt, deren Erscheinung durch ein sich Ausdruck verleihendes Bewusstsein hervorgebracht wird, wie es Hegel in seiner »Phänomenologie des Geistes« zeigt, auch wissenschaftlich analysieren? Über diese grundlegende Problemstellung hinaus besteht bei einigen Wissenschaftstheoretikern Uneinigkeit darüber, ob die Frage nach dem Begriff der Wissenschaft überhaupt richtig gestellt ist. Sie schlagen vor, Wissenschaft als Tätigkeit von Individuen anzuerkennen, die von sich sagen, sie seien als Wissenschaftler tätig. Diese wissenschaftssoziologische Auffassung entspricht der postmodernen Rationalitätskritik. Die seit Platon maßgebliche Unterscheidung der Wissenschaftsentwicklung zwischen wahrem Wissen und bloßem Für-wahr-Halten wird darin aufgegeben. Die relativistische Haltung gestattet nicht, Wahrheit, Objektivität und Fortschritt weiterhin als übergreifende Leitideen anzusehen.
 
Das Erbe des Wissenspluralismus des 19. Jahrhunderts lässt im 20. Jahrhundert das Interesse an einer verbindlichen, für alle Disziplinen gültigen Methodologie wachsen, die als eine Art Generator für die Produktion und die Prüfung der Rationalität der Forschungsprozesse eingesetzt wird, um Subjektfaktoren wie beispielsweise Werturteile auszuschalten. Dieses positivistische Programm, das der Logische Empirismus des Wiener Kreises aufnahm, orientierte sich an der logischen Struktur und der Methodik der Naturwissenschaften, vor allem an der Physik. Zugleich bestand die Überzeugung, dass alles wissenschaftliche Wissen sich auf eine sinnlich wahrnehmbare, theorieunabhängige (objektive) Welt bezieht, die als sichere Grundlage zur Verifizierung und Falsifizierung von Theorien dient. Der strikten Trennung von Theorie und Empirie entspricht auf sprachlicher Seite die Unterscheidung zwischen Theoriesprache einerseits, die aus allgemeinen Termini zur Durchführung von logischen Operationen bei der Formulierung von Gesetzen besteht, und Beobachtungssprache andererseits, in der singuläre Ereignisse ausgedrückt werden. In den Streit über den Status der »Korrespondenzregeln«, die zur Verknüpfung beider Sprachebenen notwendig werden, schaltete sich Karl Popper, zunächst Mitglied des Wiener Kreises, dann einer seiner schärfsten Kritiker, ein.
 
Für Popper gilt, dass Theorien niemals durch empirische Beobachtungen verifiziert werden können. In seinem berühmten Werk »Logik der Forschung« (1935) entwickelte er eine normative Theorie der Wissenschaft, in der das Wesen der Wissenschaft in der permanenten kritischen Prüfung und Falsifizierung der aus Theorien gewonnenen Hypothesen besteht, um auf lange Sicht zu wahrem Wissen zu gelangen. Damit blieb zwar die (korrespondenztheoretische) Annahme einer deutungsfreien objektiven Welt als Basis der Wahrheit in Geltung, aber die Funktion von Ereignis- und Verhaltensbeobachtungen für den Forschungsprozess änderte sich: Sie eigneten sich nicht mehr für die Verifizierung von Theorien, sondern lediglich dafür, Hypothesen innerhalb des deduktiv-nomologischen Aufbaus der Forschung »vorläufig« zu belegen.
 
In Deutschland wurde Poppers kritischer Rationalismus durch Hans Albert vertreten. Im Positivismusstreit der Sechzigerjahre stritten Albert und Popper für eine wertfreie Wissenschaft gegen die kritische Theorie und die Hermeneutik. Die kritischen Rationalisten, die sich alljährlich im österreichischen Alpach in der Sommerfrische und zur Stärkung des Wir-Gefühls der »Forschergemeinschaft« trafen, brachten (als enge Freunde) auch die Falsifikateure ihres Ansatzes hervor: das »Enfant terrible« Paul Feyerabend, den Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn und den Philosophen und Mathematiker Imre Lakatos, die sich in ihrer Kritik an Popper auf Analysen über die alltägliche Arbeitsweise (»normal science«) der Wissenschaften bezogen: Die Wissenschaften seien durch metaphysische Annahmen (Paradigmata) angeleitet und suchten statt nach Falsifikationen nach Bestätigungen ihrer Theorien, außerdem seien die Forscher hauptsächlich daran interessiert, ihre Forschungsprogramme zu institutionalisieren und permanenten Orientierungswandel zu vermeiden. Zumeist arbeiteten sie gemeinsam mit anderen Kollegen und bildeten eine Forschergemeinschaft. Eine solche Forschergemeinschaft oientiere sich weniger an universell postulierten Wahrheitskriterien als am Funktionieren und am Erfolg einer einmal getroffenen Entscheidung für eine Theorie. (Über die wissenschaftsexternen Verhältnisse in Alpach hat Arthur Koestler den amüsanten Roman »Die Herren Callgirls« geschrieben.)
 
Allerdings ging es Popper nicht um eine Beschreibung der Funktionsweise des Wissenschaftsbetriebes, sondern um eine normative Theorie der Rationalität der Forschung. Feyerabend hat mit seinem »Anything goes« die Parole einer anarchistischen Wissenschaftstheorie wider den Methodenzwang ausgegeben. Konform zum postmodernen Zeitgeist vertrat er in seiner Spätphase die relativistische These, zwischen Aberglaube und Wissenschaft bestünde letztlich keine Rationalitätsdifferenz.
 
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften überhaupt am Modell der kausal-analytischen Wissenschaften orientieren sollten. Von Seiten der Geisteswissenschaften, insbesondere von Johann Gustav Droysen, Wilhelm Dilthey und Max Weber, sind daher immer wieder die Unterschiede des Forschungsgegenstandes hervorgehoben worden. Dementsprechend forderten sie eine andere, nämlich hermeneutische Methode, die auf einem nicht psychologischen Begriff des Verstehens von Sinn beruht. Menschliches Handeln als Forschungsgegenstand ist nicht durch Verhaltensbeobachtungen von außen in seinen Bedeutungen zu erfassen, sondern durch das Verstehen des subjektiven Sinns, den ein Handelnder mit seinem Handeln verbindet. Weiter ist zu berücksichtigen, dass ein bestimmtes Handeln von einem oder von mehreren Menschen zwar vor einem historischen Hintergrund erfolgt, der durch allgemeine Strukturen geprägt wird, dass ein solches Handeln jedoch eine Besonderheit darstellt, die durch eine nomologische Erklärung gerade nicht erkannt und verstanden wird. Während der Gesetzesbegriff in den Naturwissenschaften vor allem beobachtbares, regelmäßiges Verhalten (beispielsweise von Atomen, Enzymen oder Galaxien) erfasst, geht es im Sozialen um regelgeleitetes Handeln. Menschen folgen Gründen, Absichten, Erwartungen, Zielen, und sie wissen es, sie handeln reflexiv. Ihre Handlungen wie die symbolischen Objekte ihrer historischen, soziokulturellen Lebenswelt, bedeuten für sie selbst etwas.
 
Aus dieser Perspektive unterscheidet sich das hermeneutische Wissenschaftsverständnis substanziell von dem der Naturwissenschaften. Auf diesen Zusammenhang weist bereits Hans-Georg Gadamers Schrift »Wahrheit und Methode«, das berühmteste Werk hermeneutischer Tradition in diesem Jahrhundert, hin. Dieser belesene Autor illustrierte, dass Wissenschafts-, Alltags- und Stammeskulturen auf traditionell bedingten kohärenten Realitätsdeutungen beruhten. Daraus schloss er, dass es keine kontextfreien Theorie- und Empiriebegriffe gibt. Für Gadamer ist Verstehen nicht nur Nachvollzug des subjektiven Sinns, den ein Autor mit seinem Werk verbindet, sondern »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln«. In jeder Deutung findet eine Horizontüberschneidung statt. Der Interpret bezieht das symbolische Objekt auf den kulturhistorischen Kontext, in welchem es etwas bedeutet. Diese Deutung kann der Interpret aber nur aufgrund seiner eigenen Bildungsgeschichte vornehmen. Gadamer zeigt, dass das Sinnverstehen von einer dialogischen Struktur geprägt ist, in der der Interpret über den fremden Text veranlasst wird, sich mit seinem eigenen Verständnis auseinander zusetzen. Daraus haben die hermeneutischen Wissenschaftstheoretiker geschlossen, dass jede Forschung - auch das standardisierte Vorgehen der Positivisten - innerhalb eines im Prinzip unabgeschlossenen historischen, sprachvermittelten Deutungsprozesses stattfindet. Die Alltagssprache ist der Hintergrund, von dem sich auch die Forschung durch die Einführung von Wissenschaftssprachen nicht lösen kann, denn jede Formel, jede Gleichung setzt einen latenten, sinnstiftenden Bedeutungshorizont voraus. Dieser hermeneutische Zirkel: »Es ist immer schon verstanden worden, bevor methodisch reflektiert wird«, ist nicht hintergehbar. Während Gadamer die Hermeneutik als Interpretation von überlieferten Texten auffasst, sehen Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel in ihr eine wissenschaftliche Methodologie der Explikation von kommunikativ geäußerten Sinnzusammenhängen. Begründet die Hermeneutik für den Heidegger-Schüler Gadamer den Führungsanspruch von Bildungseliten, so gehen Habermas und Apel davon aus, dass Interpreten die Geltung von sprachlichen Äußerungen auch dann kritisch beurteilen können, wenn ihnen das Wissen über die entsprechenden Tatsachen fehlt. Die beiden Sprechakttheoretiker begründen ihre Auffassung mit den universellen Strukturen der Alltagssprache, die jeden Sprecher beziehungsweise Hörer in die Lage versetzen, die Wahrheits-, Wahrhaftigkeits- und Richtigkeitserwartungen der Äußerung oder des Textes zu identifizieren.
 
Auch wenn es auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie keine verbindlichen Antworten über das Wesen der Wissenschaft und der damit verknüpften Begriffe von Theorie, Methode und Empirie gibt und geben kann, teilweise weil der kritische Diskurs zur wissenschaftlichen Klärung dazugehört, teilweise weil der Gegenstand, »die« Wissenschaft als Summe aller Einzelwissenschaften und der Philosophie sich permanent wandelt, so ist doch eine solche Reflexion des wissenschaftlichen Prozesses unverzichtbar. Gerade in Anbetracht der gewaltigen Macht, die die Wissenschaften in modernen Gesellschaften über ihre technisch-technologischen Anwendungen entfalten, ist eine begleitende Forschung des herausgehobenen Beitrags der Wissenschaften zur Wahrheitsfindung und zur Aufklärung so eminent wichtig. Die »Entzauberung der Wissenschaften« gelingt jedoch ebenfalls nur auf der Grundlage einer wissenschaftlich aufgeklärten philosophischen Vernunft
 
Prof. Dr. Christiane Bender
 
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 8: 20. Jahrhundert, herausgegeben von Reiner Wiehl. Neuausgabe Stuttgart 1995.
 
Philosophie der Gegenwart, herausgegeben von Josef Speck. 6 Bände. Göttingen 2-31984—92.
 
Philosophie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Anton Hügli und Poul Lübcke. 2 Bände. Reinbek 2-31996—98.
 Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. 4 Bände. Stuttgart 1-81987—89.

Universal-Lexikon. 2012.

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